Klaus Lemkes Comeback und andere Entdeckungen beim „Ersten
Internationalen Filmfestival Frankfurt“
In mancherlei Hinsicht ist Klaus Lemkes einziges Interesse das, was davor passiert: Vor Drehbeginn, vor der Kamera, vor allem Endgültigen. Das ist die einfachste Erklärung, warum der vergangene Ruhm und zwanzig Jahre ohne Erfolg, den Mann so wenig tangieren; die Erklärung aber gleichzeitig auch, wieso Running Out of Cool so herrlich geglückt ist. Auch ohne fertige Kopie erlebte der Film nun seine Premiere auf dem Ersten Internationalen Filmfestival Frankfurt: Ein konzentriertes Alterswerk, getarnt als atemloser Debütfilm, dessen Schöpfer im Vorspann ohne Namensnennung sein Gesicht hinter einer Piratenflagge versteckt. Und der Raubzug in den eigenen Gewässern, den Straßen Schwabings, birgt als funkelnden Schatz ein Ensemble begnadeter Darsteller.
Eine 35mm Kamera zu klauen, ist für den Jungen aus Hamburg (Maxi Treu) ein Kinderspiel. Aber die Kellnerin (Marlene Morreis) und die Stripperin (Claudia Grimm) sind nicht leicht rumzukriegenzum Filmemachen. Es sind Frauen, die für Schwärmereien ungern die starke Position aufs Spiel setzen, die sie beim Sex innehaben. Kein anderer Spielfilm über das Kino hat je so viel Enthusiasmus hergezeigt, ohne das geringste Pathos aufkommen lassen. Lemke schuldet dieses Vermögen seinem Vorbild Howard Hawks: Dessen Taktik, jeden mit jedem kämpfen zu lassen, mit albernen Worten und geklauten Sprüchen, bis klar ist, dass es tatsächlich um Ernstes geht, um den heiligen Moment, wenn sich zwei von einander hinreißen lassen. Dass anwesende Dritte und Vierte dabei nicht stören, gar förderlich sind, verträgt sich gut mit dem Wesen der filmischen Arbeit. Dazwischen drängen darf sich allerdings kein pompöser Aufwand an künstlerischen Mitteln, Lemke ist ein strenger Philosoph der Lässigkeit.
Die schmucklosen Bilder des Kameramanns Rüdiger Meichsner sind der robuste Stoff für schnelles Erzählen. Es mag irgendwie altmodisch sein, wie wenig Arbeit man diesem Film anmerkt. „Aber wer sagt uns,“ schrieb Godard vor 40 Jahren, „dass dieses alte Kino, wenn es nicht das von heute ist, nicht das von morgen sein wird?“ Will man die Frage nach Trends und Tendenzen, ohne ein müdes Vielleicht beantworten, dann muss man nur fühlen, wie ein Film das Publikum, seine unbestechlichen Kritiker, packt und glücklich macht. Absurderweise stand die Premiere im Schatten eines noch jüngeren, dreiviertelstündigen Vorfilms – ebenfalls von Lemke: Never go to Goa, ein berauschter Urlaubsfilmessay über die Liebe am Ende der Ferien. Er ließ die Leute im stickig ausverkauften Saal tatsächlich vor Freude jauchzen. Solange die Türme der Stadt vom Januarnebel keusch verschleiert waren und das noch unvertraute Geld leicht wie im Urlaub für Kaffee und Zigaretten durch die Finger schlüpfte, mochte man sich gerne unterhalten lassen von einem so sympathischen Missgeschick wie Henry Jagloms überkandidelt romantischem Deja vu. Oder ehrlich verblüfft sein von Shinji Imaokas Sexfilm Seifuku de daite, der in 60 Minuten mehr Wahnwitz und Wahrheit besitzt als die französischen Provokationen der letzten Jahre. Es waren die großen neuen Filme von Lehner oder Zulawski, von Suzuki oder Linklater, allesamt extravagante Unternehmungen, deren sicher nicht zufällig von Toten bevölkerten Geschichten, von penetranter filmischer Opulenz tödlich zerdehnt, die Frage aufwarfen: Sollen wir nicht lieber einen Kaffee trinken? Woran lag es, dass mit zunehmender Dauer des Festivals die Überlegenheit der Dokumentarfilme über die Spielfilme so deutlich vor Augen trat? Das Interesse für das Danach, für Konsequenzen und Kontinuitäten, wird zur Zeit – wie vielleicht ohnehin – vom Dokumentarfilm besser und schöner vertreten: Von Peter Nestler und Harmut Bitomsky, von Klaus Wildenhahn und Claude Lanzmann, deren neueste Arbeiten über Flucht und Krieg, über Abschied und Rache, das reiche Festivalprogramm versammelte.
Zwischen diesen schon legendären Dokumentaristen ist Robert Bramkamp ein gut platzierter Feuerwerkskörper. In Prüfstand 7 schafft er es spielerisch, eine deutsche Erfindung, die Rakete, als verwirrend finsteres Kunstwerk zu verstehen, das interessanter ist als seine nationalsozialistischen Auftraggeber. Nächstes Jahr werden in Bremen 12 Millionen Menschen erwartet, die im Zentrum eines neuen Parks zu einer Rakete hochblicken.
Der neue Film von Frederick Wiseman beginnt und endet mit der Skyline von Tampa, Florida, die nicht viel anders aussieht als die von Frankfurt. Aber Domestic Violence zeigt das weite Abseits von Macht und Reichtum; darin ein Heim für in der Ehe misshandelte Frauen und deren Kinder. Für die drei Stunden des Films ist dies der Ort langsam vermittelter Erfahrung und schnell revidierter Urteile.
Seit Jahrzehnten widmet Wiseman seine geduldigen filmischen Beobachtungen nicht Individuen, sondern deren Umgang miteinander in einer Institution. Es geht ihm dabei – wie vor ihm nur John Ford – nicht um Mitleid mit dem Einzelnen, sondern um das Glück und die Verwundbarkeit der Gemeinschaft, keineswegs symbolisch, denn es geht tatsächlich um die Rettung der Schwachen und um die Schwäche der Retter.
In einer verstörenden Sequenz steht ein Polizist ratlos zwischen Eheleuten. Der Mann hat Hilfe gerufen, weil er fürchtet seine Frau zu schlagen, und die Frau will nicht von ihm weg, nur noch einschlafen. Es ist zuletzt nur Verletzung oder Trennung denkbar, aber man spürt, dass davor so etwas wie Liebe war. Vor der Gewalt.
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