Die Pioniere vom Wedding

TAZ , 22.02.2002,
von Helmut Höge

HELMUT HÖGE über neue Verbindungen

Im russischen Sexshop vis a vis von Schering gibt es einige Löcher in den Wänden zwischen den Videokabinen. Hierhin lotste eines Tages Jürgen seinen jungen griechischen Freund Papadopulos. Der Name wurde von der Redaktion geändert. Letzterer heißt eigentlich Alexander.
Seit einer Rockveranstaltung im Humboldthain hatte er in Jürgen einen großzügigen Spender gefunden, der ihm immer wieder Geld lieh, ohne es zurückzuverlangen. Irgendwann wollte er dafür jedoch Zärtlichkeiten. Alexander wollte davon aber nichts wissen. Andererseits fand er Jürgens Wunsch auch wiederum nicht so abwegig oder unverschämt, dass er ihn fortan gemieden hätte.
Nach wie vor trafen sie sich im Musik-Café am Nettelbeckplatz. Und Jürgen gab Alexander auch weiterhin einen aus, wenn dieser mal wieder pleite war. Irgendwann einigten sie sich sogar: Und zwar im besagten russischen Sexshop. Die meisten Sexshops, denen z.T. Bordelle angeschlossen sind, befinden sich inzwischen in russischer Hand – was aber wenig oder gar nichts bedeutet.
Alexander ging in eine der Kabinen, schaute sich die Pornos an und wichste dabei – während Jürgen ihm durch das Loch der Kabine nebenan zuschaute – und sich dabei ebenfalls einen runterholte. Es klappte jedoch nicht. Alexander entschuldigte sich später damit, dass er sich „irgendwie beobachtet gefühlt“ habe. Jürgen konterte: „Du beobachtest doch selber – wie die Frauen in den Filmen z. B. blasen, ficken und wichsen“
Sie versuchten es noch einmal. Anschließend meinte Alexander: „Diesmal lag es am Sekundenanzeiger des Geldautomaten. Da waren nur noch ein paar übrig und ich überlegte, ob ich so kurz vorm Orgasmus noch ein ganzes 2-Euro-Stück einwerfen sollte – ein anderes hatte ich nicht. Das hat mich dann aus der Kurve getragen“.
„Das hast du schön gesagt,“ erwiderte Jürgen, der in seiner Freizeit gerne Ausflüge an den Lausitz-Ring organisiert und einen BMW fährt. Schließlich klappte es aber doch. Und dann gelang es Alexander sogar noch, sich mit dem Keuchen von Jürgen in der Nachbarkabine zu koordinieren. „Ich komme mir bald vor wie ein Flugzeugpilot, der einen Crash ansteuert“, meinte er neulich zu mir. “ Unglaublich, auf was Du da alles achten musst: die geilsten Stellen in den Filmen finden und anklicken, auf das Display des Münzautomaten achten, das Atmen in der Nachbarkabine genau registrieren und das alles dann noch mit dem eigenen Orgasmus per Hand kombinieren“ Dabei schaute er mich beifallsheischend an. Oder jedenfalls kam es mir so vor. Sein Vergleich mit den Todespiloten gefiel mir jedoch nicht.
Eher erinnerte mich seine Leistung in der Wichskabine an das „Prüffeld 7“. So heißt ein Film über Pynchon und Peenemünde, den der Regisseur Robert Bramkamp gerade im Babylon-Kino präsentierte.
Dabei geht es durchgehend um die Abwesenheit der Frau beim Bau der Rakete (V2), die dann selber eine Frau ist, kein Phallus, wie man naheliegenderweise denken könnte. Das zentrale Verbindungselement zwischen Mensch und Maschine ist dabei die Hand. Der Film endet dann auch mit dem Pynchon-Song „Theres a Hand“.
Das erzählte ich Alexander. „Und? Weiter“, fragte er. „Na ja,“ sagte ich, „bei Dir ist die Frau dreifach abwesend – erst nur als Video, dann über Bildschirm und der dann noch mal gespiegelt.
Anwesend ist dagegen eine Restzeitanzeige sowie das interpretationsbedürftige Atmen nebenan. All das musst du mit der Hand am Joystick quasi steuern, wobei die Hand selbst gesteuert wird, in dem Moment, wo die Pflicht gegenüber dem Mann nebenan in eigene Lust übergeht. So seh ich das.“ „Ich werd mir den Film daraufhin mal ankucken“, versprach Alexander.

taz Berlin lokal Nr. 6683 vom 22.2.2002, Seite 23, 125 Kommentar HELMUT HÖGE, Kolumne

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