Therapie nach Drehbuch: Die Eroberung der Mitte in der Lupe 1
Der Film von Robert Bramkamp offenbart, was Skeptiker des Psychobooms immer schon ahnten: Um Wahrheit geht es in der Therapiepraxis nicht. Weder dem Therapeuten noch den Klienten. Letztere wollen nur endlich zu Romanhelden ihres eigenen Lebens werden. Dabei hilft der Erfolgstherapeut Stroemer (Peter Lohmeyer), der ihnen in Gruppensitzungen authentische Erfahrungen verordnet wie z.B. Ohrfeigen und Küssen im fliegenden Wechsel. Der schlaue Doktor organisiert als Ghostwriter die Lebensgeschichte der Klienten, die durch seine Bearbeitung einfach und ergreifend wird wie ein Hollywoodfilm.
Stroemers Interesse an der „buchfähigen“ Seelenentwicklung ist nicht selbstlose Hilfe, sondern dient der medialen Verwertung. Er schlachtet die außergewöhnlichsten Fälle für seine Lebenshilfe-Bestseller aus. So kommt zu den Forschungsergebnissen in den Gefilden unwägbarer Seelennöte ein saftiger Mehrgewinn. Aufmerksam auf dieses Geflecht von seelischen und finanziellen Abhängigkeiten wird die kluge und schöne Wolke Donner (Karina Fallenstein), eine Ex-Therapierte. Mit Rachegelüsten und falscher Identität schleicht sie sich in die Praxis ein und entdeckt bald die Quelle des nie versiegenden Kundenzustroms. Ein mit Stroemer bekannter Radiologe dichtet seinen Patienten Krebsleiden an. Diese müssen sich dann zwischen Chemo- und Psychotherapie entscheiden. Ihr Weg führt schnurstracks zu Stroemer, der sie sofort mit den Illusionen, Sensationen und spannungsgeladenen Schwebezuständen versorgt, nach denen es ihnen verlangt.
Das alles ist geistreich und komisch inszeniert durch eine Story, die ihre Helden nicht linear begleitet, sondern wie Hypertext funktioniert. Der Einstieg in die Charaktere und ihre Wahrnehmungen ist immer und überall möglich. Für Bramkamp gibt es genauso wenig die ,Mitte und die eine Wahrheit wie für die Therapiesüchtigen. Das Leben bleibt eine Montage von Fakten, Gedanken und Gefühlen – frei interpretierbar.
Copyright © Die Tageszeitung, 1995