Dies ist ein Film voller Fortschrittsglauben. Er artikuliert ihn auf die für Kunst einzig legitime Weise, er setzt darauf, daß sich die Erzählungen ändern lassen, mit deren Hilfe die Menschen ihre Wirklichkeit deuten.
Zu Robert Bramkamps Kinokonzeption gehört es, Historisches, Faktisches, Fiktives so in Beziehung zu setzen, daß daraus ein anderes Kino erwächst; eins aus lauter bislang ungesehenen und ungenutzten Möglichkeiten. Ausgangspunkt seines neuen Films „Der Bootgott vom Seesportclub“ ist es, das vorsintflutliche Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris und die Brandenburger Gegend um Glubig- und Scharmützelsee nebeneinanderzurücken, so daß sichtbar wird: Die vorzivile Region und die deutsche Wirklichkeit sind sich näher, als man denkt. Kann Brandenburg von dieser Konstellation profitieren, wird es sich ändern, wenn dort ein uralter sumerischer Gott unter den Menschen wandelt?
Sucht man kinogeschichtliche Anknüpfungspunkte für den „Bootgott“, findet man sie bei Monumentalfilmen „Troja“ , „Die Passion Christi“, „Herr der Ringe“ sind aktuelle Aneignungen von Mythologie, die alle Möglichkeiten des Kinos nutzen, um Wunder mit der Aura des Realen auszustatten. Ihre Macher werfen Hollywoods Effektmaschine aber immer bloß an, um Filmfiguren maßlos zu überhöhen. Als wäre Übermenschlichkeit das einzige, was hilft, das Leben erträglich zu gestalten.
Der Bootgott wirkt unheroisch, weltlich, als wäre er aus einer Charlottenburger Kneipe in einen Mythos entführt worden. Sein Name ist Enki. Vor 5,000 Jahren übertrug er den Menschen Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichten, die zerstörerischen Naturkreisläufe zu überwinden, eine zivilisierte Welt zu errichten. Heute, im Bootsportclub, arbeitet er als Aushilfe. Enki verkörpert das, was materiell fehlt, was dringend passieren müßte, damit der Alltag in der von der herrschenden Ökonomie an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Region um den Scharmützelsee wieder lebenswert wird. Wahrlich, einen solchen Gott hat die Geschichte, das sieht man ihr an, lange vermißt.
„Wir wären, wenn möglich, gern ohne soviel Mythologie ausgekommen. Nun sind wir jedoch überzeugt, daß der Mythos eine Sprache ist, ein Ausdrucksmittel“. Dies schrieb Cesare Pavese, italienischer Schriftsteller, Kommunist, Sympathisant des Widerstands zur Zeit Mussolinis. Pavese benutzte antike Mythologie, um zu zeigen, wie in Gesellschaften wie dem nachfaschistischen Italien immer wieder alte, totgeglaubte Wirkkräfte und Konflikte jeden erhofften Neuanfang ersticken. Ähnlich widerspricht auch Bramkamps Film der Auffassung, ein Mythos sei lediglich ein Hirngespinst. Im alten Griechisch bedeutet Mythos „das Wort, das einen Tatbestand tönt“. Anders als der Logos, das Wort der Philosophen und Theoretiker, schließt der Mythos Individuelles, Gefühle, Träume, seelische Tiefen und Widersprüche mit ein, ihm ist also ein viel umfassenderer Begriff vom Menschen eigen.
Heutzutage dient Kinomythologie einem Kult der WeItabgewandtheit, der Abwertung von Alltagswirklichkeit. Der „Bootgott“ enthält einen Protest dagegen. Wie Bramkamp einen Mythos mitspielen läßt, wie er diesen verbindet mit konkreten Lebensgeschichten und Schwierigkeiten der Menschen im Bootsportclub, das gibt dem Mythos seinen Realismus zurück. Denn einen Mythos als ewig gültige Wahrheit hinzustellen ist der Inbegriff von Erstarrung. Der Mythos kann ständig gebrochen und verändert werden, und das muß sogar geschehen, denn andernfalls haben die großen Erzählungen und die aktuellen Alltagserfahrungen nichts miteinander zu tun. Wenn es im heutigen Kino einen aufgeklärten Umgang mit Mythologie gibt, dann in Robert Bramkamps Film.
Wer an strikten Genreeinteilungen festhält, muß bei diesem Film doppelt sehen; Dokumentarisches und Fiktives ist im „Bootgott“ unauflösbar vermischt. Bramkamp dokumentiert, wie er der Realität eigene Vorstellungen hinzufügt. Brandenburg ist voller seltsamer Mischwesen, Mutanten. Als Held paßt Enki vortrefflich in deren Welt aus geilen Kicks und Sensationen. Aber der will diese Rolle nicht spielen, zürnt, weil die Erzählungen der Mutanten nur noch um sie selbst kreisen; das Gesellschaftliche, die aktive, verändernde Teilnahme daran, haben sie völlig aus den Augen verloren. Manchmal ist Horror auf der Leinwand Ausdruck von genauer Kenntnis des Publikums.
Der titelgebende Bootsportclub existiert wirklich. In einer von vielen arbeitssuchenden Bewohnern verlassenen, in Agonie fallenden ostdeutschen Gegend stellt er ein ganz reales Wunder dar. Eines der letzten Kulturangebote, bei dem jeder mitwirken kann. In der Schlußszene auf dem Arbeitsamt bittet Enki um Verlängerung seiner ABM-Stelle, laut Statut darf er aber nicht eingesetzt werden, um gewachsene Strukturen zu erhalten; Förderung gibt’s erst nach deren Verfall, fürs Aufräumen. In staatlichen Köpfen läuft offensichtlich ein Katastrophenfilm. Dem versucht Enki eine andere Erzählung, das heißt bei ihm, eine andere Realität entgegenzusetzen. Bramkamps Film ist Teil eines Projektes, das im Internet fortgesetzt wird. Dort kann es jeder Enki gleichtun, Fähigkeiten und Wissen einbringen, um dem Bootsportclub das Weitermachen zu ermöglichen. Dieser Film geht weiter in der Welt, die man betritt, wenn man das Kino verläßt.
Der Westernregisseur John Ford drehte gern im Freien, weit von Hollywood, im legendären Monument Valley. Für ihn war das eine Möglichkeit, den Routinen und Intrigen des Filmbetriebs zeitweise zu entgehen. Der „Bootgott“ sieht aus, als habe Bramkamp sein Monument Valley gefunden. Wann hat man je so schöne, farbige Bilder vom Alltag in Brandenburg gesehen, wann dessen Geräusche so intensiv auf einer Tonspur vernommen? Weite und Offenheit des Himmels korrespondieren mit der Art, wie der Film sich, mit Lust und großer Freiheit, öffentlich verdrängten Tatsachen stellt.
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