Die Zeit der Rakete – Hat die Rakete einen Orgasmus, besitzt sie einen Charakter?

Jungle World, 22.05.2002,
von Michael Girke (siehe auch : SPEX )

Ein Gespräch mit Robert Bramkamp über seinen Film »Prüfstand 7«

Die Heeresversuchsanstalt Peenemünde gilt als die Wiege der modernen Raketentechnik. Vom Prüfstand 7 startete am 3. Oktober 1942 die erste Rakete ins Weltall. An der Produktion der Rakete V2 waren Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora zwangsweise beteiligt. In seinem semidokumentarischen Film »Prüfstand 7« versucht Robert Bramkamp eine Charakterstudie der Rakete. Für »Prüfstand 7« erlaubte der amerikanische Autor Thomas Pynchon erstmals die auszugsweise Verfilmung seines Romans »Gravity’s Rainbow« (»Die Enden der Parabel«).

War dieser erstaunliche BMW-Werbespot, der den Mythos der Rakete abbildet und Bestandteil Ihres Films ist, Mitauslöser für »Prüfstand 7«?
Als ich nach einem Auslandsaufenthalt wieder nach Deutschland kam, habe ich bemerkt, dass sich eine Art Space-Revival andeutet. Da ich vorher Laurence Rickels Buch »The Case of California« gelesen hatte, dachte ich, das wird wahrscheinlich kein Revival, sondern ein Re-Run – da soll ein Stück Geschichte wiederholt werden. Plötzlich kehren in Form von Werbung diese Space-Bilder wieder – samt ihren üblichen Visionen. So stellen sich Ingenieure das erste Hotel im Weltall vor. Das Bildmaterial ist identisch mit dem der fünfziger Jahre.

Die Rakete war nach den Mondflügen und dem Verschrotten der »Mir« ziemlich entmystifiziert. Die Ariane, die einen Telekom-Satelliten in den Orbit schießt, war ja nur noch für Versicherungen interessant. Der Mythos war zur Statistik geworden. Dann wurde dieser Re-Run gleichsam aus dem Nichts gestartet. Der Mars rückte an die Stelle des Mondes.

In den letzten vier Jahren hat das zu einer wahren Explosion geführt. Die West-Werbung, die Architekten-Images, die Cover neuer Platten, die BMW-, Audi- und Mercedes-Werbung – alle haben mit der Rakete zu tun. 1998 mit der ILA in Berlin hatte die Weltraumindustrie erstmals wieder eine große Weltraummesse gewagt. Und 2000 schafften sie es, dass diese internationale Weltraumstation hochgeschickt wurde.

Auf der medialen Seite vom Wiederholungsdurchlauf wird niemals die Rakete selbst perspektiviert. Sie ist zwar stets beteiligt an den thematischen Häppchen: der Mars, der Orbit, der Satellit, der Mensch im All, der Raketenschirm etc. Das magische Objekt, das all das organisiert, fehlte aber.

Jetzt, 2002, ist »Prüfstand 7« wahrscheinlich aktueller geworden, als man denkt – wegen der Wiedereinführung von militärischen Operationen als politischem Mittel und den damit verbundenen Normalitätsbemühungen. Diese Schizolage, die wir jetzt haben, mit Krieg, Terror und Normalitätsspielen hier, diese Lage ist ja nun gerade die Stunde der Rakete.

Es gibt einen Satz von William Faulkner, den Alexander Kluge oft als Ausgangspunkt nimmt: »Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.« Wie weit ist der Satz für Ihre Arbeit maßgeblich?
Zum Beispiel in der Strategie, die Filmerzählung ständig pendeln zu lassen zwischen dem Urobjekt der V2- bzw. der A4-Rakete und dem heutigen Raketengeschehen und dabei zu überprüfen, ob es Linien gibt, die sich überhaupt nicht verändert haben, Frequenzen, die absolut stabil und immer wieder so da sind, wie am ersten Tag. Darin steckt das Grundmotiv, zu sagen, die Vergangenheit ist, in dem Sinne, in dem wir normalerweise denken, nicht vergangen. Das stimmt auch in dem Sinne, dass ich davon ausgehe, es gibt eine bestimmte Raketenfrequenz, und es gibt mit der Rakete verbundene Phantasmen, auch historische Vorgänge von Geschichtsfälschung und Manipulation, die höchst gegenwärtig sind. Inklusive der Bedrohung, die damit zusammenhängt.

Kluge bringt auch immer dieses berühmte Bild: Wenn zwei sich unterhalten, sieht man dahinter noch die Eltern, und dahinter noch die Großeltern, und dann auch noch sehr alte Schichten, das unterschreibe ich voll. Man kann das sogar im Alltag beobachten. Ich finde, bei manchen Leuten sieht man in gewissen Situationen die Generationslinien.

Gleich zu Beginn von »Prüfstand 7« werden Fäden von Thomas Pynchons »Gravity’s Rainbow« aufgenommen, so ist Slothrops Weg durch Deutschland auf der Spur der Rakete präsent. Sind Sie Pynchon-Leser oder -Fan? Versuchen Sie, bestimmte seiner
Montageverfahren für den Film nutzbar zu machen?

In meinen bisherigen Filmen gab es immer das Verfahren, dass eine filmische Erzählform kontrastiert wurde mit einer zweiten, die eine andere Perspektive hat, sodass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt und man auch feststellen kann, dass die verschiedenen Bild- und Erzähldialekte alle ihre begrenzte Reichweite haben. Diese Aufspaltung zwischen verschiedenen Bilddialekten mit jeweils eigener Reichweite, die in einer einzigen Geschichte kombiniert werden und zusammenarbeiten, das ist etwas, das mich grundsätzlich interessiert. Insofern war es eine Zeitfrage, bis ich irgendwann auf Pynchon stoßen würde und natürlich auf den aus genau solchen Verfahren bestehenden Roman »Gravity’s Rainbow« nur beglückt reagieren konnte.

Im Kino lief bereits ein anderer Film über Pynchon, »Journey into the mind of P.« von Fosco und Donatello Dubini. Da der Film einem biederen Dokumentarismus verpflichtet ist, kommt es nicht zu der Reise »into the mind of P.«, die der Titel verspricht. Hat er
Ihnen trotzdem gefallen?

Ich finde, dass der Dubini Film, den ich als Pynchon-Leser und -Fan natürlich mit höchstem Interesse wahrgenommen habe, wahrscheinlich besser betitelt wäre mit »Eine Reise durch die Köpfe von Thomas Pynchon-Fans« und nicht als eine in »the mind of P.« oder in sein literarisches Universum. Alles, was darin vorkommt, ist von zusätzlichen Spekulationen der Fans und Leser gespiegelt. Als solchen finde ich den Film aber interessant.

Dennoch glaube ich, dass er in einigen Punkten, an denen ich es abschätzen kann, nicht genau genug ist. Ich habe darüber mit Donatello Dubini schon diskutiert. Die Dubinis bringen zweimal in ihrem Film ein zentrales Zitat aus »Gravity’s Rainbow«. Es handelt davon, dass eine Evakuierung angesichts der V2 nur noch Theater ist. Weil das Heulen der Rakete, dieser Geist, mit dem »Gravity’s Rainbow« beginnt, erst nach dem Einschlag der Rakete am Himmel steht, also zu hören ist. Dann ist längst alles passiert. Man hat die Rakete nicht kommen hören, man kann gegen die Explosion nichts machen, deswegen ist es Unsinn, zu evakuieren.

Und: Die Rakete kann jederzeit überall einschlagen. Zur Illustration dieses Zitats zeigen sie aber das Vorgängermodell der V2. Ein kleines Unterschallbrummflugzeug, eine V1, die von jedem Propellerflugzeug abgeschossen werden konnte. Und bringen dazu Bilder von der Londoner Bevölkerung, die Schutz vor der V1 in den U-Bahn-Tunneln findet. Das heißt, dieser fundamentale Schnitt hin zu dem, was Pynchon »Menschheit der Post-A4-Epoche« nennt, diese Neuerung, von deren Ankunft es übrigens überhaupt kein Bild gibt, sondern nur von den Folgen, wird falsch und sozusagen »traditionell« bebildert.

Konträr zu Pynchons Erzählung höre ich eine Flugbombe heranbrummen und gehe vorsorglich in den Luftschutzkeller. Das ist das absolut falsche Bild. Es kann das richtige Bild für diese Romanstelle auch gar nicht geben. Wenn man sich vorstellt, dass die V2 vier- bis fünffache Schallgeschwindigkeit fliegt, dann hätte irgendjemand im Zweiten Weltkrieg die Kamera an eine Stelle des Himmels richten müssen, an der zufällig eine Nadelspitze, ein kleines schwarzes Pünktchen hätte auftauchen müssen, das sich innerhalb von sechs Sekunden in eine Explosion verwandelt hätte.

Eine Beschreibung von Matthew Partridge, einem Freund aus Hamburg, dessen Vater so etwas in London erlebt hat, besagt: Man guckt aus dem Fenster und da kommt ein roter Doppeldeckerbus um die Ecke. Man dreht sich um, tut ein Stück Zucker in seinen Tee, und dann ist der Bus weg, dann sind drei Häuser weg, dann steht da eine monströse Rauchwolke, und dann kommt ein monströser Knall. In diesem Bild und in diesem Vorgang wird deutlich, in welchem Ausmaß sich die Technik den Einflussmöglichkeiten der Individuen entzogen hat und was überhaupt ein technologischer Krieg ist.

Im gerade im Bau befindlichen Space Park Bremen wird Raumfahrt zur Erlebniswelt. Sie haben von einer gespenstischen Entdeckung berichtet: Die Planer dieses Parks bauen unbewusst die Struktur Peenemünde – Mittelbau Dora nach.
Man muss es genauer sagen. Die bauen natürlich nicht absichtlich Dora nach. Aber durch die ahistorische dramaturgische Beratung durch Disneyfirmen aus Los Angeles und durch die unverändert wirksamen Raketen-Phantasmen bildet sich das Muster unbewusst wieder aus.

Die wiederholten Elemente sind: Die Wahrheit der Rakete liegt wieder untertage. Es wird ein Tunnel gebaut, der zu dieser Wahrheit führt. Man hat es mit der Bewegung von Massen zu tun, denn es sollen ja Tausende Leute pro Stunde durch den Space Park und seine »Füllräume« geschleust werden. Der Besucher erlebt ein gespieltes Drama, eine Reise zum Mars, an deren Ende im Tunnel eine mystische Hand auf ihn zugreift und Ich-auflösende Bewussteinszustände herbeiführt. Man kann auch sagen, am Ende dieser Bremer Spacereise begegnen die »Marsbesucher« ihrem eigenen Tod.

»Prüfstand 7« ermöglicht hier eine genaue Beobachtung von geschichtlichen Vorgängen, die sich der Alltagswahrnehmung, wie wir sie kennen, entziehen. Der Film beschreibt ein Skandalon, das vom herrschenden Umgang mit Geschichte begünstigt,
wenn nicht produziert wird.

Der Skandal besteht darin, dass die geplante Darstellung der Geschichte – falls überhaupt – ansetzt mit einer V2, die aber als ausländische präsentiert wird, eine mit US-Flagge. So wie es 1998 ja tatsächlich in der offiziellen Broschüre des Bundesverbandes der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie hieß: »Anfangs war Raumfahrt eine Sache der ‚Großen‘, der so genannten Supermächte. Erst später bot sich Nationen wie Deutschland eine Chance zur Beteiligung.« Die eigene Geschichte kommt einfach nicht mehr vor.

Gespräche mit der Weltraumindustrie oder den Space Park-Leuten waren 1999 nur möglich, wenn man auf deren Fragen wie »Wo setzen Sie mit ihrer Raketengeschichte an? Wann setzen Sie an?« geantwortet hat: »1956, Flug ins All, Gagarin.« Denn nach der misslungenen 50-Jahre-Jubiläumsfeier, dem skandalösen Versuch der Industrie, die Geschichte in Peenemünde etwas schlicht darzustellen, ist das Thema zum Tabu erklärt worden.

Man sieht im Film, wie unterschiedlich sich Museumsmitarbeiter in Nordhausen/Mittelbau Dora und Peenemünde zu der Geschichte dieser Orte verhalten. Zum Beispiel, wenn die Mitarbeiter in Peenemünde nicht von der Vernichtung durch Arbeit an der Rakete reden. »Prüfstand 7« weist auch auf mehrere Dilemmata des üblichen Dokumentarismus hin. Etwa darauf, dass Aufnahmen aus dem »Dritten Reich« oder dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen als Zeugnisse der Geschichte verwendet werden, ohne auf deren Inszenierung einzugehen. In »Prüfstand 7« hingegen werden die Kontexte sichtbar und damit das, was sich in den alten Bildern materialisieren soll.
Oder auch das, was sich ungeahnt und unbewusst in ihnen materialisiert.

Nun zeigt der Film auch, wie die Utopie der Rakete den Tod hervorbringt; wie die Weiterarbeit am Projekt den Tod verdrängt. Vieles, was Sie erarbeitet haben, steht seit dem 11. September wieder auf der Tagesordnung. Wie sehen Sie den Film im Verhältnis zur New York- und Afghanistan-Berichterstattung?
Diese kriegspsychologische Raketenstimmung, die sich offenbar beliebig wiederherstellen lässt, wird im Film demontiert. Die Ereignisse stehen in einer Kette von Krisensituationen, die seit einiger Zeit wieder für die Stunde der Rakete sorgen. Dieser Zustand hat ein Muster. Erst erfolgt der militärische Angriff: »18 Uhr 15, Raketen auf Kabul! Die freie Welt schlägt zurück!« (B.Z.) 14 Tage später kündigt Bild an: »Der erste Mensch auf dem Mars wird ein Deutscher sein!« Und am Ende dieser Schwingung ist der Nulldurchlauf bei: »Rakete zerreißt deutsche Soldaten.« (B.Z.)

Man könnte mit diesen Schlagzeilen »Prüfstand 7« immer weiter fortsetzen, denn von dieser Ambivalenz der Rakete handelt der Film. Die Ambivalenz zwischen utopischem Leben an neuen Orten oder in neuen Zuständen einerseits und der Todesdrohung andererseits ist ein Angebot an Leute, die sich nicht entscheiden können, keinen Überblick haben und eine starke Performance ersehnen, die sie von dieser Pein erlöst.

Ein radikales Jein als Grundhaltung, verbunden mit der Unfähigkeit, Alternativen zu denken oder Konsequenzen auszuhalten, das ist die Situation oder Disposition, der die Rakete Macht verleiht.

Diese bestimmte Form der Raketenschizophrenie mal rückwirkend auf das anzuwenden, was gerade bei uns passiert, wäre bestimmt aufschlussreich. Dann lautet das zweite Echo, und das hat wieder Bild mit einer Schlagzeile aufgefangen: »Ich stand am größten Friedhof der Welt.« Bild ist in dieser Beziehung ganz präzise, weil das wirklich Traumatische und Schockartige ist, dass sich ein riesiger Friedhof sichtbar und anwesend materialisiert hat.
»Prüfstand 7« erzählt von dem hartnäckigen Versuch, die Toten unsichtbar zu machen bzw. Beerdigungen zu umgehen. Vielleicht erzeugt dieser Trümmerhaufen eine besonders traumatische Wirkung, weil er ein riesiger Friedhof ist, den man anerkennen muss. Und: Er ist dadurch entstanden, dass Mord und Beerdigung eines waren, die Beerdigung also ausfallen konnte.

Was heißt »wirklich« im Film?
Also zunächst einmal gibt es da die Möglichkeit, mit der Kamera Räume zu zeigen, Gesten, Gesichter und Handlungen genau zu zeigen, die man schwer in Worte übersetzen könnte. Es ist die spezielle Leistung der Kamera, einen zunächst mal nicht diskursiven Zugriff zu haben. Und der kann unter den heutigen Produktionsbedingungen nur dann interessant werden, wenn es jemand schafft, gleichzeitig zur Beobachtung auch eine Geschichte in das Beobachtete reinzudrücken. In etwa so, wie es Godard umschreibt: Es drückt sich nur etwas aus, wenn man etwas reindrückt.

Hinzu kommt, dass die Erzählung, die da reingedrückt wird, eine dikursdokumentarische Korrektheit hat. Das ist entweder so, wie man wirklich über etwas reden würde, oder es entspricht der Art, in der ein Wissenschaftler wirklich über etwas denkt. Zum Beispiel sind bei »Prüfstand 7« 80 Prozent der Texte entweder wörtlich oder direkte Umarbeitungen aus Quellen. So beim ersten erfolgreichen Raketenstart am 3. Oktober 1942: Man hört
dabei, stark gekürzt, den inneren Monolog Dornbergers (Walter Dornberger war militärischer Leiter bei der Entwicklung der V2; d. Red.), wie er ihn aufgeschrieben hat. So wird zum Thema, dass sein Herz stockt, dass ihm ein Stein vom Herzen fällt, dass er nicht mehr sprechen kann. Er baut da unterschwellig eine erotische Bildwelt auf, mit Brennschlüssen anstelle von Orgasmen.

Aber man fragt sich: Normalerweise gibt es einen Orgasmus, wo ist der bei der Rakete? Beim Start, beim Brennschluss oder beim Einschlag? Das ist schon eine seltsame erotische Umcodierung, die nicht nur in Dornbergers emotionaler Wahrnehmung der Raketenflugbahn stattfindet. Sein Text ist zwar gekürzt, aber wörtlich wiedergegeben. In dem Sinne, würde ich sagen, handelt »Prüfstand 7« von wirklichen Vorgängen. Wirklich, weil Dornberger es so aufgeschrieben und veröffentlicht hat. Wirklich, weil es einen Zugang bedeutet zur Gefühlswelt, die mit der Rakete verbunden war und ist.

Copyright © Jungle World 2002

lange Version des Interviews unter:
http://filmkritik.antville.org/20020525/53188/