DIE EROBERUNG DER MITTE – Kritik des Filmes

epd Film, 9/95,
von Georg Seeßlen

Der Film beginnt mit einer Ohrfeige und einer Umarmung. Beides ist Teil einer gruppentherapeutischen Inszenierung, deren Regisseur, den Therapeuten Mark Stroemer, wir gleich wegen seiner anmaßenden, kalten Art nicht mögen. Schon in der nächsten Sequenz lernen wir den Menschen kennen, der sich ihm entgegenstellen wird: Die junge, hübsche und intelligente Wolke Donner wird sich in einer neuen Identität (die zuerst am Computerbild erprobt wird) in seine Umgebung und sein Vertrauen schleichen. Sie wird seine Mitarbeiterin, und er wird durch sie zu immer neuen Höhenflügen angestachelt. Seine Fälle verarbeitet er zu windigen Lebenshilfe-Büchern, und schließlich wird ihm die Auseinandersetzung mit der Krebserkrankung des therapiesüchtigen Maklers Jacoby zum großen Erfolgsmodell, auf das auch die Versicherungsunternehmen reagieren.

Dieser Jacoby wird von den Vertretern der „Gerätemedizin“ (das müssen wir hier ziemlich wörtlich nehmen) am Anfang als „Münchhausen“ bezeichnet, als einer, der mit einer eingebildeten oder vorgetäuschten Krankheit eine Reise durch die teuersten und dramatischsten Therapieplätze unternimmt. Wir könnten mit der Frage „Warum?“ in das System zurückplumpsen, das der Münchhausen durchreist, aber diesmal interessiert die Frage „Wie?“ und so wird konsequenterweise Münchhausen zum Kommentator und Rebellen seines Milieus. Er lebt die Krankheit und ästhetisiert sie zunehmend, am Ende hat er sich, in einer poetisch-komischen Szenerie, gar in ihren Propheten verwandelt, der, eingehüllt in die Versicherungsfahne, über die Dächer huscht.

Was sich indes in dieser Zusammenfassung so anhört, als könne man wahlweise einen sozialdemokratischen Aufklärungsthriller oder eine Didi-Hallervorden-Komödie daraus machen, ist für Bramkamp die Folie für eine filmische Bewegung, wie es sie im deutschen Film kaum gibt: nicht um die wie auch immer satirisch verformte Imitation der Wirklichkeit geht es und nicht darum, daß ein Schauspieler seine Rolle „ausfüllt“, sondern um ein Denken in Bildern und Worten, das über den psychologischen Realismus hinausgeht. Was einen als Zuschauer in Bann schlägt ist nicht die Sympathie oder Antipathie zu diesem oder jenem Schauspieler oder dieser oder jener Schauspielerin, die für die Dauer der Einstellung vergessen ließe, daß es einen Unterschied gibt, zwischen Darstellung und Rolle, Gegenwart und Repräsentanz des Schauspielers, sondern der Beginn eines unendlichen Kreisens der Diskurse, eines positiven Kreisens nach Außen, das weder auf ein imaginäres Zentrum der Probleme noch gar auf den Mythos einer Lösung zusteuert, sondern vor allem in einer wundersamen, kosmischen und komischen Weiterung des Blicks besteht. Sanft, aber mit listigem Nachdruck verführt uns Bramkamp zu einem anderen Sehen auf das Geflecht von Liebe und Macht.

Die Liebe (das Leben), die Krankheit (der Tod), die Medizin (die Macht) und die Versicherung (die Metaphysik) sind voneinander nicht nur kausal abhängig, sondern verhalten sich auch wie ihre gegenseitigen Erfindungen. Und so betreibt die Bewegung des Films nicht nur die Auflösung der obsoleten Rationalisierungen (ohne sich dem barbarischen Diskurs der neuen Ganzheit zu öffnen, der wie mir scheint, eine Mehrzahl der deutschen Filmemacher und Filmemacherinnen mitsamt ihrer Klientel verfallen ist) sondern beginnt, in das Geflecht dieser Erfindungen einzutauchen, wobei es immer deutlicher wird, das es eine fundamentale Wahrheit nicht gibt, nicht einmal die des Körpers. Hinter dem Text wird nicht DIE Wirklichkeit, sondern immer nur ein anderer Text sichtbar, und umgekehrt kann sich kein Text darauf hinausreden, ja nur Text und damit „unwirklich“ zu sein. Bramkamps Figuren sind deshalb zwar nicht Subjekte als „Herren ihres Textes“, keine medialen Wiederholungen bürgerlicher Personen, aber es sind auch nicht rethorische Hülsen, wir können ihnen immer wieder auch auf ganz direkte, naive Weise nahe sein, auch während sie weit davon entfernt sind, direkt und naiv sie selbst zu sein.

Bei alledem ist Bramkamps Film nicht nur gelegentlich umwerfend komisch, wenn auch auf eine eher philosophisch-zerebrale Art, sondern auch auf eine ganz einfache Art schön, in den Bilder und ihren Bewegungen, nur ist eben auch diese Schönheit nicht auf die gewohnte Art über-identifiziert: so ist auch die Schönheit nicht identisch mit ihrem Empfinden. Aber das, was nicht identisch ist, ist deshalb noch lange nicht unabhängig voneinander.

Die eigentliche „Handlung“ lassen Bramkamp und sein Kameramann Ekkehart Pollack mit einer ebenso grandiosen wie präzis die Form des Films selber vorgebenden Bewegung beginnen: wir sehen hinauf zu einer riesigen Kuppel, aus deren gläserner Mitte Tageslicht in diese Herrschafts- und Körperarchitektur fällt, die die Kamera nun in einer spiralförmigen Bewegung durchmißt, gegen unsere Wahrnehmungskonventionen des establishing shots die architekonischen und ästhetischen Ebenen ohne genauen Fixpunkt beschreibend (an Statuen vorbei, deren Köpfe man nicht sieht), über Türen, die nicht auf einer Ebene angeordnet sind, schließlich über eine regungslos wartende Frau auf den Eingang, durch den, noch einmal, das helle Tageslicht fällt (und ein beinahe schmerzliches grün die verläßliche Natürlichkeit der Natur in Frage stellt) und die Heldin mit energischen Schritten kommt; die Kamera verfolgt, in der selben Bewegung fortfahrend, wie sich Wolke Donner auf einem freien Platz niedersetzt und geht dann weiter bis zu einer nächsten Tür, aus der Marc tritt, dort verharrt sie: Punkt und Auftritt der Macht ist erreicht, raumfüllend inszeniert sich der Therapeut als jemand, der die Fäden in der Hand hält (und schluckt doch gleich den Köder, den Wolke ihm anbietet). Diese vertrackt schöne Kamerabewegung, in der schon der Widerspruch zwischen fühlen und denken aufgehoben ist, beschreibt sehr genau die Struktur von Ableitung, Architektur und Inszenierung, und die Kamera verbindet dies, für einmal, nicht, indem sie Identität vorgibt. Auch die Kamera bleibt, in gewissem Grade, unabhängig: wir wissen daß sie zwar für den „Text“ des Films (für den Zusammenhang zwischen Sprache und Bild) verantwortlich ist (natürlich gäbe es diesen Text nicht ohne sie), aber sie ist nicht mit ihm identisch. So wird sie auch im Verlaufe des Films, weniger spektakulär, doch entschieden, die vollständige Ordnung des Bildes und die Eindeutigkeit der Perspektive verweigern und Bewegungen des Übergangs suchen. Ganz ähnliches und damit verbunden spielt sich auf der Ebenen des Dialoges ab. „Sie müssen“, sagt der Arzt zum „Münchhausen“, während beide auf eine Gruppe von Leuten schauen, die sich, vor einem großen, wieder licht- und gründurchfluteten Fenster, versonnen um ihre Malerein kauern (das Therapie-Idyll nach der Therapie-Hölle), „sich entscheiden, entweder Chemotherapie oder Psychotherapie. Auf jeden Fall brauchen Sie neue Freunde“. Was rational und medizinisch gesehen purer Nonsense ist, wird in der Stofflichkeit des Bildes zu einer klaren Wegbeschreibung: Rückzug auf den Körper, Rückzug auf die Sprache, Rückzug auf die Beziehung. Mindestens eines ist jeweils ausgeschlossen, was, fatalerweise, natürlich auch für das Gegenteil des Rückzugs, die Öffnung gilt.

Was Bramkamps Film, wenn man so will, zu einem „postmodernen“ Film macht, ist, daß er seinen Reichtum nicht aus einer Geste der Negation gewinnt (es gibt ja das Romantische, das Komische, das Symbiotische, das Kritische und das Sehnsüchtige noch, und der Film registriert es mit ironischer Zärtlichkeit), sondern aus der Überschreitung und Überlagerung, eben jener spiralförmigen Bewegung, die das, was man hinter sich gelassen hat, nicht unsichtbar werden läßt, so wie sich das Metaphysische ohne Zwang erkennnen läßt. Jeder Bramkamp-Film ist ein kleines Werk der Befreiung, und weil das stets mit Glück verbunden ist, auch mit ein wenig Arbeit der Phantasie, können diese Filme auch ein bißchen süchtig machen.

Auch mit noch so angestrengtem Sehen kann ich in diesem Film weder die Herrschaft der Zentralperspektive, noch die Konstruktion der Person durch die Erzählung, ja vielleicht nicht einmal das, was man herkömmlich als „Sinn“ mißversteht, wiederherstellen. Die dramatischen Konflikte der Hauptpersonen entpuppen sich auf der jeweils nächsten Ebene immer wieder als Komplizenschaft, und statt der melodramatischen Klärung der Fronten betreibt der Film die vollständige Vernetzung von Wahrnehmung und Interesse. Nie „setzt sich jemand durch“, nie „sagt jemand mal endlich die Wahrheit“, aus dem Zusammenbruch einer Intrige ersteht sogleich die nächste. Aber zugleich kann ich mich nirgendwo auf Kälte und Distanz einstellen. Denn wir sind so sehr in das Spiel involviert, daß wir, um es mit Umberto Eco zu sagen, selber am Text des „offenen Kunstwerks“ arbeiten. Bramkamps Film „denkt“ über Körper, Sprache, Ökonomie und Macht und kommt zu dem Schluß, daß ein Beginn erreicht werden kann. Die Idee bei Bramkamp ist keineswegs „filmisch dargestellt“, sie ist selber Film geworden. Einen besonderen Reiz (und für den einen oder die andere auch die besondere Schwierigkeit) erzeugt der Film schließlich dadurch, daß er seine Methode ausgerechnet auf einen gesellschaftlichen Bereich anwendet, der einer besonders rigiden sozialen Bearbeitung zwischen Rationalität und Scharlatanerie unterworfen ist und dessen Fähigkeit, die Mitte zu erobern, vor allem aus dem Leidensdruck erwächst. Seine seltsame Freiheit taucht ausgerechnet am unfreiesten Ort der Gesellschaft und der Biographie auf, dort, wo Sprache und Körper am dramatischsten aufeinanderzuprallen scheinen. Das wiederum aber haben Therapie und Film miteinander gemeinsam, und so wird „Die Eroberung der Mitte“ (die wie alles eroberte, natürlich verloren wird) schließlich zu einem Essay über das Filmemachen. Auch der Autor und sein Werk sind nicht mehr identisch, und die Bewegung der Personen und Beziehungen in Bramkamps Films bewegen sich aus der Mitte heraus; die Personen suchen ihren Autoren nicht mehr, und der läßt sie frei. Das ist die nächste Umdrehung der Spirale, und nicht die letzte. Bramkamp gelingt es, im Film endlich Räume zu öffnen, die in der Literatur und in der Bildenden Kunst schon betreten sind, und er ist dabei einer der wenigen Neuerer des Kinos, bedeutender als all die melancholische Kaligraphie, die Zeitgeisterei und Mythomanien, an die wir uns gewöhnt haben. Da zeichnet sich ein Kino für Zeitgenossen ab, die keine „Schule des Sehens“ brauchen, sondern Filme, durch die sich etwas denken läßt. Vielleicht können wir uns ja, was die ästhetische Produktion anbelangt, wirklich noch einmal vom neunzehnten Jahrhundert verabschieden. Sogar im deutschen Film.

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