Der Filmemacher Robert Bramkamp hat den Bruch mit den Erzählkonventionen des Mainstream-Kinos zur Kunstform gemacht. Seit diesem Semester lehrt er an der Hamburger Kunsthochschule – das ist eine gute Nachricht für alle, die an einem Kino der Ideen interessiert sind.
Es ist wie in seinen Filmen: ein Zustand der konzentrierten Diffusion, der sich einstellt, sobald Robert Bramkamp die Tür aufmacht. Er sei bereit, sagt er, aber über was wollen wir eigentlich reden? Bramkamp sieht jung aus, jungenhaft, dabei ist er schon 47. Dies ist seine erste Professur, er ist jetzt Kollege von Wim Wenders an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste (HFBK), Studienschwerpunkt Film und digitales Kino. Ja, das sei vorerst sein Büro, sagt er, gar nicht so schlecht, er lacht und zeigt über den kahlen Raum, auf dem Schreibtisch stehen zwei Apple-Laptops, sonst wenig. Welche Filme von mir, fragt er, haben Sie denn gesehen?
Er wolle zeigen, dass Denken Spaß machen kann, hat Robert Bramkamp in einer Fernsehsendung mit Alexander Kluge gesagt. Da ging es um seinen Raketenfilm „Prüfstand 7“ und die Sendung mit Kluge hieß „Der gefrorene Blitz“ – so wurde die V 2-Rakete der Nazis genannt, weil sie erst einschlug und danach zu hören war. Bramkamp hatte seinen Film an drei Orten gedreht: im vorpommerschen Peenemünde, wo das Versuchsgelände war und heute ein Museum steht. Im ehemaligen KZ Mittelbau-Dora, wo die Rakete produziert wurde, wo aber auf Wunsch der überlebenden Häftlinge heute keine Rakete zu sehen ist. Und im Bremer Space-Center, in dem die Weltraumträume reaktiviert wurden, bis das Center dann pleite ging; aber das war nach Bramkamps Film. Bramkamp hat diese drei Orte als erster zusammengebracht, darauf muss man eben kommen: Bramkamp ist einer, der kommt darauf.
In dem Fernseh-Interview gibt es irgendwann einen Augenblick, wo Bramkamp lächelt, sich seitlich zurücklehnt, und Kluge hört nur noch zu. Der Regisseur redet über Raketentechnik, die Schleierkühlung, die die auseinander strebenden Aggregatszustände der Rakete koexistieren lässt, und von seiner Theorie der abgetrennten Hand, mit der er einer mythologischen Spur folgt. „Wir haben Germanen aus Essen interviewt“, sagt Bramkamp und erzählt Kluge, dass sich die germanischen Krieger die Hand abgetrennt hätten, wenn sie einen Kampf überlebt hätten, in dem sie hätten sterben sollen. „Die, die tot sein sollten, aber leben, hacken sich die Hand ab.“ Für ihn ist das eine Formel, mit der sich die Rakete, die „Königin der Ambivalenz“, interpretieren lässt: die Waffe, die den Tod bringt, aber für die, die sie bauen, gleichzeitig den Traum von der Unsterblichkeit verkörpert.
Die genannten Germanen aus Essen sind Männer, die sich verkleidet irgendwo im Wald von Peenemünde treffen, aber Bramkamp wäre nicht er selbst, brächte er das nicht zusammen: Raketenflugbahn und Walkürenritt, „Drittes Reich“ in Peenemünde und Rollenspiele neben dem heutigen Raketenmuseum. Gleich in der ersten Sequenz seines Films steigt die großartig somnambule Hauptdarstellerin Inga Busch, die irgendwann entdeckt, dass sie der Geist der V 2-Rakete ist, in einen BMW: Immer wieder wird der BMW-Werbespot eingeblendet, verändert und mit historischen Aufnahmen remixt, in denen etwa die V 2 Fehlstarts produziert, in verschiedenen Stadien des Abhebens. Start – und bumm. Und nochmal: Start – bumm. Und nochmal: Während Inga Busch ihren „Lieblingsfehlstart“ kommentiert, wird etwas von dem Irrsinn der Raketenpolitik spürbar.
„Der Filmemacher Robert Bramkamp redet schnell“, heißt es in einer anderen Kluge-Sendung, und das stimmt auch für Bramkamps Filme. Man müsste sie mehrmals sehen, um diese Dichte der Assoziationen annähernd zu erfassen. Bramkamp erforscht geistige Zusammenhänge, er schaut sich die Dinge an und wundert sich. Keine Spekulation ist zu abenteuerlich, als dass sie nicht einen Versuch wert wäre. Wie ist es, in der Rakete zu sein, im Innersten, hinter dem kühlenden Schleier aus Treibstoff, wo die Materie sich auflöst?
Wir sitzen vor der Hochschul-Mensa, Bramkamp stochert in seinem Salatteller und redet schnell. Er wolle innerhalb des neuen Master-Studiengangs „Fine Arts“ eine „Forschungsabteilung für künstlerischen Autorenfilm“ betreiben, mit Leuten, die sich wie er für „polyphone Formen des Erzählens“ interessieren. Hamburg ist für Bramkamp nicht neu: Seine Psychotherapie-Tragikomödie „Die Eroberung der Mitte“ hat er mit der hiesigen Produktionsfirma Wüste-Film gedreht, die auch Fatih Akin groß gemacht hat. Das war in den 90ern, seitdem hat er auch eine Wohnung im Stadtteil St. Georg. Alle vier, fünf Jahre könne er einen langen Film drehen, sagt Bramkamp, das sei jedes Mal ein kleines Wunder: „Die Forschungsabteilung des deutschen Films“, sagt er, „ist Hartz IV-mäßig ausgestattet.“
Für seinen letzten Film „Der Bootgott vom Seesportclub – Die 100 ME“ hatte er sich in der brandenburgischen Wildnis niedergelassen, unweit eines tatsächlich existierenden Seesportclubs, um ein Experiment durchzuführen. Was würde passieren, wenn der sumerische Seefahrergott Enki in der ostdeutschen Nachwende-Realität auftauchte und seinen Schöpfungsakt wiederholte, in dessen Verlauf er die Menschen mit 100 Fähigkeiten, den so genannten Me, ausstattete?
Der Gott, den Bramkamp auftauchen lässt, findet im Zuge einer befristeten ABM-Maßnahme Beschäftigung im Seesportclub, die Me werden „eingesetzt“, wie es im Film mythologisch korrekt heißt, und mit kleinen gelben Schildern markiert, die in der Seelandschaft stehen. Indem Karten des Zweistromlandes und der brandenburgischen Provinz übereinandergelegt werden – und siehe: Sie passen! -, kann vorhergesagt werden, wo das nächste Me eingesetzt wird, sei es „das Me, zu wissen wie es wirklich war“ oder „das Me, die richtige Farbe zu treffen“, das Me-Partnerin Susanne Weirich ausübt. Die Bildende Künstlerin Weirich betreibt mit Bramkamp ein Produktionsbüro mit Adresse in Berlin, Prenzlauer Berg, gemeinsam haben sie das Internet-Erzählprojekt www.enki100.net entwickelt, in das der Bootgott-Film, gewissermaßen als Exposition, eingebettet ist.
Der Witz des Films besteht darin, dass man nie weiß: Ist Enki ein Arbeitsloser, der sich im Seesportclub als sumerischer Gott ausgibt, oder ist er ein Gott, der in Gestalt eines Arbeitslosen seine Schöpfung im Nachwende-Osten wiederholt? Auf jeden Fall kann die real existierende Realität zwischen Spree und Oder den Gott Enki gut gebrauchen, sodass am Ende gemeinsam mit der Dame vom Arbeitsamt über die Verlängerung seines ABM-Vertrags nachgedacht wird.
Den Enki-Mythos habe er mit Susanne Weirich und seinem dem Filmteam „komplett implementiert“, sagt Bramkamp. Er verschränkt die Arme, die Idee gefällt ihm. Mit seiner Einführung in die ostdeutsche Realität hat der Mythos diese verändert: Es gibt inzwischen ein echtes Enki-Bier, und auf www.enki100.net kann nachgelesen werden, wie die 100 Me allmählich alle ihre Me-Partner finden – mit Unterstützung von Geistern wie dem taz-Feuilletonisten Helmut Höge, der schon in Bramkamps Raketenfilm „Prüfstand 7“ mitgespielt hat.
Bramkamp macht seine Filme nicht allein, das ist ihm wichtig. „Die kollektive Autorenschaft muss zu schaffen sein“, sagt er. Für seinen Raketenfilm hat er mit dem Berliner Kulturtheoretiker Friedrich Kittler gesprochen, und ohne Thomas Pynchons Raketenroman „Gravity’s Rainbow“ wäre der Film überhaupt nicht denkbar gewesen. Weil Bramkamp Sequenzen des Romans verfilmen wollte, musst er den scheuen US-amerikanischen Autor, der für die Öffentlichkeit unsichtbar ist, um Erlaubnis fragen – dass er die bekommen hat und damit einen Pynchon-Kontakt nachweisen konnte, war wiederum gut für den Film.
Bramkamp hat seinen Salat aufgegessen, beim Gehen redet er weiter über Raketen und darüber, dass sich niemand mehr aufregt, wenn die Amerikaner welche in Polen stationieren, übrigens nicht weit von der Stelle, wo in „Prüfstand 7“ der deutsche Raketenpionier Wernher von Braun auf einem Feld steht und die eigene, in Peenemünde abgeschossene Rakete erwartet wie Frankenstein sein Monster. „Wernher von Braun wurde in der Geschichtsschreibung falsch dargestellt“, sagt die Sprecherstimme im Film, „in Wirklichkeit sah er so aus“: Es folgt ein Bild von dem Filmschauspieler Peter Lohmeyer, der Wernher von Braun spielt. Er überlebt die Begegnung mit seinem Geschöpf, die Rakete verfehlt ihn, wenn auch nur knapp.
„Bramkamp ist dabei einer der wenigen Neuerer des Kinos, bedeutender als all die melancholische Kaligraphie, die Zeitgeisterei und Mythomanien, an die wir uns gewöhnt haben“, schrieb der Filmkritiker Georg Seeßlen. Das war 1995. Jetzt, dreizehn Jahre später, scheinen die Institutionen endlich reagiert zu haben. Zurück in seinem Zimmer in der Hamburger Kunsthochschule, Abteilung Film und digitales Kino, muss Robert Bramkamp einige Formulare unterschreiben, dann schaut er auf die Uhr. Heute Abend muss er noch nach Berlin. „Glauben Sie, dass ich den Zug noch erreiche?“ Er stürmt das Treppenhaus hinunter. Die kleine Seitenstraße, an der die Filmabteilung in einem neu entstehenden Media Campus untergebracht ist, soll irgendwann einmal pulsieren. Jetzt ist sie leer, und es sieht nicht so aus, als würde hier je ein Taxi vorbeikommen.
Bramkamp geht trotzdem los, die Straße hinunter. In seinem Enki-Projekt der 100 Me ist das Me 17 das „Me des Taxis“. Es ist vergeben, die Fähigkeit ist eingesetzt und wirkt. Nach einer Minute kommt ein Taxi und hält.
Robert Bramkamp lädt am Dienstag, 8. Juli, von 15 bis 20 Uhr zu seinem Filmkolloquium „Gesetze gibt es keine“. Unter dem Titel „Olafs Welt“ wird diesmal der Filmkritiker Olaf Möller einen Streifzug durch „unorthodoxe und nonkonformistische Filmformen“ unternehmen. HFBK Hamburg, Averhoffstraße 38.
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Erscheinungsdatum 3.7.2008, S. 27.