Das Geheimnis der Rakete

Frankfurter Rundschau, 4.05.2002,
von Guido Graf

Another Götterdämmerung: Thomas Pynchon und Deutschland

1929 hat Fritz Lang den Countdown erfunden, wie nebenbei. Nur wenn er auf Null zählt, weiß das Publikum, wann die Rakete losgeht. Zur Premiere seines aufwendigen und sehr im Geist der Zeit liegenden Films Die Frau im Mond beauftragte Fritz Lang einen der Pioniere der deutschen Raketenentwickler, Hermann Oberth, für ihn eine echte Rakete zu starten. Damit beginnt der Film. Am Ende seines Romans Gravity’s Rainbow, zu deutsch Die Enden der Parabel, kurz bevor die Rakete, die Goebbels aus dem technischen Begriff „Aggregat 4“ in „Vergeltungswaffe 2“ umgetauft hat, zu ihrem Zerstörungsflug in die Gegenwart ansetzt, in das Los Angeles Anfang der siebziger Jahre, als der Roman erschien, erzählt Thomas Pynchon auch eine kurze Geschichte des Countdowns. Eine Geschichte der Apokalypse, wie sie die Kabbala erzählt: Die Reise durch die zehn Sphären, die zu den Zahlen eins bis zehn gehören, führt in den Abgrund.

Zugleich aber sind die Sphären untereinander durch Wege verbunden, die den Buchstaben des Hebräischen Alphabets entsprechen: ein alles mit- und durchbuchstabierender Text des Lebens und des Todes: Eine Paranoia der Machtlosigkeit, ein Angstspiegel, der, so Pynchon im Vorwort zu einer Sammlung seiner frühen Erzählungen von Anfang der sechziger Jahre, seine Generation geprägt hat. „Ein Heulen kommt über den Himmel.“ Und eben nur bedingt ist die Rakete damit gemeint, eine völlig neuartige Waffe: keine Bombe, kein Flugzeug. Das „Gerät“ wird vom „Ofen“ angetrieben: so die Sprachregelung der Beteiligten. Vier Tonnen Alkohol und vier Tonnen flüssiger Sauerstoff werden in nur sechzig Sekunden verbrannt. Der Gasstrahl bringt die Rakete bis auf vierfache Schallgeschwindigkeit. Nach Brennschluss, dem höchsten Punkt ihrer Flugbahn, fliegt die Rakete in einer parabelförmigen ballistischen Kurve weiter bis in ihr Ziel. „Ein Heulen kommt über den Himmel.“ So beginnt Pynchons Roman Die Enden der Parabel. Er erzählt die Geschichte der Rakete. 1973 ist das Buch erschienen, sieben Jahre nach Die Versteigerung von No. 49. Begonnen mit der Arbeit an Die Enden der Parabel hat Pynchon, der am 8. Mai fünfundsechzig Jahre alt wird, allerdings schon gleich nach Abschluss seines Debütromans V von 1963.

Am 10. November 1944 meldet Associated Press den Angriff deutscher V2-Raketen auf London. Ein Mann, der sich bei einer solchen Explosion weniger als fünfzig Meter entfernt befand, sagte: „Ich hörte keinerlei Geräusch vor der Explosion – dann dachte ich, es sei das Ende der Welt.“
Fünf Wochen später setzt Pynchons Roman ein und zitiert sich mit dem Heulen am Himmel Rilkes Schrei und die Ordnung der Engel herbei. Die Rakete ist ein Engel des Todes. Ihre Entwicklerund nationalsozialistischen Propagandisten berauschen sich an dem Versprechen absoluter Transzendenz. Die Rakete überwindet die Schwerkraft – doch nur bis Brennschluss. Dann fällt sie wieder in die dichteren Luftschichten der Atmosphäre und bringt, worum es Hitler eigentlich ging, Zerstörung nach London und Antwerpen.

Die Geschichte der Rakete in Deutschland, wie sie Pynchons Roman reflektiert, hat der Regisseur Robert Bramkamp zum Anlass für seinen Film Prüfstand 7 genommen. Bramkamp begibt sich in einer Mischung aus Dokumentation und Spielfilm auf die Suche nach dem Geheimnis der Rakete. Drehs fanden statt in Peenemünde auf Usedom, in Nordhausen, in Antwerpen und in England, wo kürzlich eine der letzten noch existierenden V2-Raketen erstmals nicht restauriert, also mit dicker Farbe übermalt worden ist, so dass man nichts mehr erkennen kann, sondern präzise nach archäologischen Gesichtspunkten konserviert worden ist. Dabei wurden Beschriftungen entdeckt, Nummern und auch kleine, rätselhafte Stempel, Signaturen von Zwangsarbeitern. Diese versteckte Produktionsgeschichte der Rakete – tausende KZ-Häftlinge, die sie gebaut haben, sind tot – kommt aus dem Bauch der Rakete wieder heraus. Die Stempel sind die letzte Spur. Der Geist der Rakete lebt zwischen den Bildern, die wir uns von ihr machen, die sie uns macht.

Die Raketenbegeisterung im Deutschland der 20er Jahre war groß. Es gab Romane, Filme, private Vereine, Zeitschriften, vor allem sehr populäre Veranstaltungen mit spektakulären Vorführungen früher Raketenexperimente. Dann übernahm das Militär. Die Privatforscher in den diversen Raketen-Vereinen mussten ihre Arbeit, die Fachzeitschrift Die Rakete ihr Erscheinen einstellen. 1932 richtet der neunzehnjährige Student Wernher von Braun unter dem Kommando des Hauptmanns im Heereswaffenamt Walter Dornberger eine Versuchsstelle für Flüssigkeitsraketen in Kummersdorf, südlich von Berlin, ein. Bei Pynchon erscheint Dornberger als Major Weißmann oder auch Blicero, der über Leben und vor allem den Tod herrscht, „ein brandneuer Typ von Militär, halb Geschäftsmann und halb Wissenschaftler“. Von 1936 an entstand in Peenemünde an der Nordwestspitze der Insel Usedom das größte Rüstungszentrum Deutschlands. Peenemünde wird zu einer geheimen Stadt für 15.000 Menschen: Ingenieure, Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge.

In seinem Roman zerlegt Pynchon, wenn auch nicht restlos, das Bild der Rakete in seine verschiedenen Funktionen. Faszination, technische Präzision, Teufelswerk. Ein rabiater Technologiesprung am Ende des Zweiten Weltkriegs, zehn Jahre vor der Zeit. Die Technik selbst wird autonom. Dem Bild der Technik entspricht im Roman der perspektivische Bau. Jede der mehreren hundert Figuren, die auftauchen und wieder verschwinden, steht potentiell mit jeder anderen in Verbindung. Eine große Zerstreuung und auch eine Ordnung. Die Parabel, die „schlackenlos gereinigte Latenz am Himmel“, eine Paranoia, ist die Ordnung des Lebens, deren Verknüpfungen und Abhängigkeiten kein Ende kennen. Die Parabel markiert eine Grenze zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge. Ihr Scheitelpunkt ist der Ort der äußersten Freiheit, ein Chaos der Möglichkeiten.

Das ist auch der Augenblick vor der Zerstörung. Für dieses Bild verwendet Pynchon einen Begriff aus der Infinitesimalrechnung: delta-t. Gemeint ist ein Wert, der unendlich klein wird und doch niemals Null erreicht. Das delta-t geht der Vernichtung von Leben und Zeit unmittelbar voraus.

Die Signatur des Wandels als Zerstörung, ein Moment der Verdichtung, der immer wieder, wie in einer dauernden Verzögerung das Buch durchzieht. In dem Moment soll alles aufgehoben sein, zwei Welten zugleich. Die eine ist geprägt von Kontinuität, Kausalität, Ordnung und Kontrolle. Im Roman stehen dafür die IG Farben oder die Heeresversuchsanstalt. Die Gegenwelt der Diskontinuität, der Wandlung oder der Auflösung verkörpert nicht zuletzt der Roman selbst, der gegen Ende immer mehr in Fragmente zerfällt. Alles scheint mit Bedeutung aufgeladen, doch die Paranoia ist auch nur ein Begriff für die Aufgabe der machtlosen Opfer des Versuchs derer, die glaubten, dieses Leben mit aller Gewalt transzendieren zu können, in den Spuren der Parabel zu lesen. Sie lesen sich gegenseitig und erkennen sich als unlesbar, so viele Konturen, scharf und genau: wer sich in diesem Dickicht als Führer erweist, wird die Macht haben, alle und alles zu zerstören.
Dass Pynchon Deutschland von den frühen Erzählungen bis zu dem letzten Roman Mason & Dixon als Schauplatz oder Referenzebene wählt, hat er mit zahlreichen anderen Schriftstellern wie Walter Abish, Carlos Fuentes, Michel Tournier oder Kurt Vonnegut gemeinsam. Gerüchten zufolge soll auch Pynchons nächster Roman in Deutschland spielen, im Göttingen des 18. Jahrhunderts. Für Pynchon allerdings dient Deutschland nicht allein als Kulisse oder historisches Reservoir. Er findet hier auch einen symbolischen und einen literarischen Raum, der strukturelle Paradoxien von Vergangenheit und Gegenwart umfasst. Was Pynchon vor allem in Die Enden der Parabel tatsächlich zerlegt, ist nichts weniger als ein Grundmuster deutscher Ideologie. Eine erst noch zu schaffende höhere Kultur kämpft gegen zu diesem Zweck zu vernachlässigende zivilisatorische Grundwerte.

Für die Rakete als dem modernen Symbol der absoluten Transgression muss man bereit sein, den Preis der Zerstörung zu zahlen. Tod und Transzendenz sind der Urstoff für Bliceros Welt.

Miklos Thanatz, sein Gefolgsmann, der natürlich nicht aus Zufall den Tod – Thanatos – im Namen trägt, und Greta Erdmann, eine paranoide Pornodarstellerin, berichten von einer Reise durch ein symbolisch verwandeltes, verdichtetes Deutschland, von Blicero verkörpert in einer Aura aus Autorität und Rätsel, maliziös erregt, nie wirklich einzuschätzen, von einem mystischen Todeswahn fasziniert, doch tatsächlich nie außer Kontrolle. Das Irrationale muss rational verwaltet werden. Für Thanatz ist die Rakete ein Opferaltar, etwas, das seine Verklärung schon in sich trägt.

Der Chemiker Franz Pökler, den Pynchon an der Rakete mitbauen lässt, lässt sich in seiner infantilen Begeisterung vom Raketenwahn vereinnahmen. Naivität, Passivität und Manipulation greifen bei ihm ineinander. Nach der Trennung von seiner Frau Leni verstärkt sich der Zerfall seiner Persönlichkeit durch arrangierte Besuche seiner Tochter Ilse bei ihm in Peenemünde. Einmal im Jahr wird sie ihm zugeführt und wieder entzogen. Pökler wird abhängig gehalten. Bald gelingt es ihm nicht mehr, seine Tochter als ein und dieselbe zu identifizieren, bis ihn vom Inzest nichts mehr abhält. Für irgendetwas muss das gut sein, ahnt er, als er 1943 dem englischen Luftangriff auf Peenemünde entgeht. Pökler sieht, was geschieht, und kann doch nicht reagieren, er hält die Wahrheit in den Händen, doch mit den Sinnen kann er sie nicht fassen. Pökler wird nach Nordhausen versetzt, er weiß alles über die Zwangsarbeiter, er kennt ihre Augen, die ausgemergelten Körper, weiß alles über Ilse und scheint doch wie in einem Vakuum.

Für Pynchon fügen sich, was Wernher von Braun nach dem Krieg immer weit von sich gewiesen hat, High-Tech und Holocaust nahtlos zusammen. „Auslöschung kennt die Natur nicht, sie kennt nur die Verwandlung“: von Brauns Satz entspricht zum einen, natürlich, dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik. Für einen Naturwissenschaftler eine Banalität. Im Kontext einer Produktion, die Vernichtung durch Arbeit zum Prinzip erhob, erhält der Satz allerdings noch eine andere, unfreiwillig zynische Bedeutung.

20.000 Häftlingen kostete die Produktion von 6000 Raketen im Berg Kohnstein bei Nordhausen das Leben. Nördlich der Stadt entsteht 1943 die größte unterirdische Fabrik der Welt. Ihre Arbeitskräfte bezieht sie aus dem vorgelagerten KZ Mittelbau-Dora. Mit bloßen Händen und mit Schaufeln mussten die Kammern des umfangreichen Stollensystems von den Häftlingen gegraben werden. Zwölfstundenschichten, mörderisches Arbeitstempo, mangelnde Ernährung, hohe Luftfeuchtigkeit, dichter Gesteinsstaub und giftige Dämpfe. Im Winter 1943/44 starben mehr Häftlinge als neue mit den Transporten aus Buchenwald hinzukamen. Das von 1944 an ständig erweiterte Barackenlager versorgte nicht nur die V2-Produktion, sondern mit etlichen Außenlagern, die sich über den gesamten Südharz ausbreiteten, Rüstungsunternehmen in der ganzen Region. Die Mittelwerke waren die Fiktion eines Rüstungszentrums, für das der planmäßig kalkulierte Tod und damit das Vergeuden der Arbeitskraft von KZ-Häftlingen in Kauf genommen wurde. Hier hat sich das System selbst das Grab geschaufelt. Eine inszenierte Götterdämmerung, der geplante Untergang der, wie Himmler zuletzt noch phantasierte, “ neuen Höhlenmenschen“.

Solange in Die Enden der Parabel Franz Pökler noch eine Aufgabe hat für die Rakete, gelingt es ihm nicht, zwischen seiner Tätigkeit und dem Schicksal seiner Tochter im KZ eine Verbindung herzustellen. Die Blindheit seiner Pflicht hilft ihm, wie Pynchon schreibt, sich nicht „aufzuschließen“ für den Schmerz, den er hätte empfinden sollen. Erst als der Krieg vorüber ist, lässt Pynchon seinen Franz Pökler das Lager Dora betreten. Es ist das einzige Mal in diesem großen Roman, dass eine Figur sich nicht in Passivität und Paranoia ergibt. Sonst lässt Pynchons Kalkül der erzählerischen Genauigkeit kaum Raum für Gefühle. Pökler sucht im Lager seine Tochter. Beim Anblick der Zustände im Lager muss er sich übergeben. Was er sieht, wird ihn verändern. Dora ist ein Grab und zugleich Geburtstätte der Raumfahrt, der Rakete. „Jenseits der simplen Erektion aus Stahl ist sie ein ganzes System, abgewonnen einem weiblichen Dunkel.“ Vielleicht meint Pylonen nur die Mutter Erde. Diesseits der Ebene der Ur-Symbole jedoch findet sich mit Mittelbau-Dora am südlichen Rand des Harzes ein höchst realer Ort. Alle Zerstörungspotentiale erscheinen verdichtet in der Rakete. Die Zerstörungsmaschinerie ist den Interessen von Mächten ausgeliefert, die um ihrer selbst willen bereit sind, jede Ordnung der Dinge in Frage zu stellen.

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