Mit musikalischer Umrahmung

filmwärts, 25.03.1993,
by Theo Matthies

Sechs fragmentarische Abschnitte zu Filmen von Robert Bramkamp

Robert Bramkamp ist Jahrgang 61. Er ist in Münster geboren worden, hat dort in der Filmklasse der Kunstakademie und an der Westfälischen-Wilhelms-Universität studiert. Im Nebenjob ist er in der Landwirtschaft tätig gewesen. Jetzt lebt er in Hamburg. So viel zu den biographischen Voraussetzungen.

GRUNDLAGEN/THEMEN
Die Themen in den Filmen von Robert Bramkamp sind teils mikroskopische, teils metaphysische, teils komische und immer recht genaue Beobachtungen und Reflexionen alltäglicher Vorgänge. Aspekte des Lebens werden in Korrelation zu ganzen, manchmal auch fiktiven, Systemen gestellt: ein Vergleich von Ursache und Wirkung, von Idee und Wirklichkeit. Was bewirkt, zum Beispiel, eine Agrarwirtschaft, die nicht wirtschaftlich ist, in dem Sinne, daß die Produktion dazu beiträgt, Menschen zu ernähren, die stattdessen einer Subventionspolitik dienlich ist mit dem Ziel, eine ”Nullproduktion” anzustreben (GELBE SORTE)? Was bedeutet es, wenn ein Mensch, der auf dem Mond spazieren gegangen ist, hinterher von der Liebe zu Gott spricht (HIMMEL DER HELDEN)? Was bewirken die Bauten eines Architekten, der sich Gedanken gemacht hat, bei den Menschen, die sich Gedanken darüber machen, wie sie in diesen Häusern leben müssen (DER MANN AM FENSTER)? Warum werden Kontrollkarten verkauft, wenn sie am Ende nicht entwertet werden (BECKER-BILLETT)? Geschlossene Erklärungsmodelle bieten Bramkamps Filme niemals an. Sie stellen Fragen, die über den aktuellen Zusammenhang hinausweisen. Wie im richtigen Leben gibt es verschiedenartige Ebenen, die Wahrnehmungen miteinander korrespondieren zu lassen. Jede dieser Ebenen, jede Erzählhaltung, bleibt aber für den Zuschauer durchschaubar, weil sie sich im Tonfall, im Erzählstil, unterscheiden: Elemente des Dokumentarfilms stehen neben denen des Spielfilms. Beiläufig geht es auch um die Auflösung dieser immer noch im Gegensatz verhandelten Erzählformen. Filme wie GELBE SORTE (Landwirtschaft), DER MANN AM FENSTER (Wohnungsbau) oder BECKERBILLETT (Karten-Kontrollsysteme) zeigen mit den Formen des Industriefilms ebenso den Umgang mit den Produkten dieser Industrie. Robert Bramkamp betreibt in seinen Filmen auch so etwas wie Ursachen-Forschung.

GESCHICHTEN
Realitäten und Fiktionen, darum geht es in HIMMEL DER HELDEN. Die eine Geschichte erzählt von dem amerikanischen Astronauten James Irving, der 1971 mit Apollo 15 auf dem Mond gelandet war und nun auf einem Missionsabend der ”Slavischen Evangeliums-Vereinigung” in der Rudolf-Oetker-Halle in Bielefeld von der Kraft Gottes berichtet. Die andere, gespielte, Geschichte ist die Errettung eines Astronauten durch eine Kosmonautin, ausgehend von einem falschen Zitat: ”Wir werden nicht eher ruhen, als bis wir den letzten Menschen vom Mond zurückgeholt haben. Auch wenn es ein Amerikaner sein sollte.” Die wirkliche Person, James Irving, erscheint wie der wahnsinnige Wissenschaftler eines Science-Fiction-Films, dessen Aufgabe es ist, Menschen von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen: Ein Missionar, dessen Wirken eine intuitive Wahrnehmung widerspiegelt. Dagegen wirkt die gespielte Mondgeschichte realistischer. Es geht um Ideen und Gefühle, die sich haarscharf am tatsächlichen Leben orientieren: Was passiert, wenn ein Mann, fern seiner natürlichen Umgebung, aus hilfloser Situation von einer durchaus attraktiven Frau gerettet wird?
Der erste längere Film von Bramkamp ist das Bauerndrama GELBE SORTE. Auch hier steht eine Liebesgeschichte im Mittelpunkt. Sie wird hier nicht eindeutig aufgelöst, entspricht den ungelösten Problemen einer anderen Ebene des Films. Der Jungbauer Bernd (Josef Drees) verguckt sich in Francis (Christin König). Sie hat Ambitionen, Schauspielerin zu werden. Zunächst einmal hat Bernd Probleme, den heruntergewirtschafteten Hof des kranken Vaters zu halten: Er meint, daß sein Vater nur einmal im Leben etwas Vernünftiges getan habe, indem er der Krankenkasse beigetreten sei. Sein Freund Henry (Andreas Pieper, aka Henry Spencer) hat sich glücklicherweise darauf spezialisiert, marode Höfe zu sanieren. Das sieht dann im weiteren so aus, daß ein ziemlich seltsamer Handel mit einem holländischen Lageristen (glänzend dargestellt von Heinrich Hüser) abgeschlossen wird: ,,Die Nicht-Produktion der Überschüsse darf sich von der Produktion des Bedarfs nicht erkennbar unterscheiden.” Ein Satz, der sehr genau das Dilemma heutiger Landwirtschaft umreißt.
Eine andere ”Erzählung” begleitet die Liebesgeschichte von Bernd und Francis. Dokumentarische Bilder von der Chinesischen Kulturrevolution, die aufgenommen werden in einer ”Nacherzählung” mit den beiden Protagonisten. Was in der ”wirklichen” Liebesgeschichte nicht gezeigt wird, findet hier eine aktionsreiche Ergänzung. Die Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Ambitionen und Vorstellungen der Protagonisten, die in der Spielfilmhandlung nur in Ansätzen stattfindet, wird hier handfest ausgetragen. Alles gehört zusammen: Es kommt ja auch nicht eben selten vor, daß Konflikte zwischen Mann und Frau auf ”Nebenschauplätzen” ausgetragen werden, die nichts mit der offensichtlichen Problematik zu tun haben.

LITERARISCHER NATURALISMUS
In DER MANN AM FENSTER geht es eigentlich auch um Wirtschaftlichkeit, um Funktionaltität und den Konflikt, der sich aus Gewolltem und Tatsächlichem ergibt. Ein Architekt hat eine Wohnanlage geschaffen, deren Gestaltung als vorbildlich gepriesen und ausgezeichnet wird. Bei einer ”Begehung” seiner Wohnanlage wird er von drei Bewohnern entführt.
Die Idee zu diesem Kurz-Spielfilm hat Robert Bramkamp aus einem Zeitungartikel. Ein Bericht, der mit Worten wie ”Zweckbestimmung”, ”Quartier” und ”Bezug” eine real existierende Wohnanlage in Dortmund preist, wird verhandelt. Robert Bramkamp: ”Es geht darum, wie sich Menschen zueinander verhalten. Auf mehreren Ebenen. Zum einen, wie der Architekt versucht hat, etwas zu schaffen, wo die Menschen zusammenkommen sollen – zum anderen, wenn die vier Personen aufeinandertreffen: der Architekt und seine Entführer, die Bewohner. Es wird nicht debattiert. Man trifft mit festen Meinungen aufeinander. Es ist eine Anklage und eine Verteidigung”. Eine Verteidigung, die mit dem Plädoyer, dem Bekenntnis des Architekten endet. Noch einmal Robert Bramkamp: ”Das Bekenntnis ist ,richtig‘, weil es ein gutes Bekenntnis ist und gleichzeitig zeigt es, daß mit einem Bekenntnis nichts verändert werden kann. Es geht um Konflikte. Die Debatte, die dort ausgetragen wird, sowohl die Rechtfertigung des Architekten als auch die Anklagen der drei Bewohner, wird durch den Zeitungstext ausgelöst. An der Sprache des Zeitungstextes kann man den Grad der Demütigung ganz gut ablesen, mit dem dort verhandelt wird. Genauso geht die Sprache durch die Leute durch, die nicht einmal ausreicht zu klären, warum es unausweichlich ist, weshalb solche Bauten entstehen, die immer wieder ein Stück Grün zupflastern und durch irgendetwas anderes ersetzen.” DER MANN AM FENSTER ist ein unglaublich guter Dialog-Film. der mit verschiedenen Genres kokettiert: Einmal meint einer der drei Entführer, der ein Gewehr auf den Architekten richtet: ”Einen Schuß aus fünf Metern … das kann man doch überleben.”

”DA KANN JA NOCH ALLES MÖGLICHE DRAUS WERDEN”
Das Unterhaltsame in Bramkamps Filmen ergibt sich aus den Brüchen zwischen den verschiedenen Ebenen. In GELBE SORTE denkt man sich nichts weiter, wenn ein scheinbar kompetenter Kommentar aus dem 0ff die Funktionalität neuartiger Silos anpreist: ,,Der Amerikaner sagt: ,Smile, when you call it a Silo‘”. Später wird die ganze Seltsamkeit des Kommentars offensichtlich. Das Vertrauen, das allein durch den Tonfall der Stimme ausgelöst wird, ist dahin. Robert Bramkamp: ”Es wird mit den Formen des Erzählens erzählt und die Form bleibt erkennbar. Man erkennt, jetzt spricht jemand aus der Perspektive des Industriefilms. Der Vorgang des Erzählens wird nachvollziehbar. So kann der Zuschauer auch die Reichweite einer bestimmten Erzählstrategie mitbekommen.”
Das wird besonders deutlich in Bramkamps bisher letztem Film, BECKERBILLETT. Er zeigt ein Verfahren, das jedem bekannt ist den Kauf einer Eintrittskarte. Dahinter verbirgt sich ein System, das offensichtlich wäre, würde man einfach nur darüber nachdenken. Man erfährt, wie der Hamburger Eintrittskartenhersteller BeckerBillett in einem aufwendigen Druckverfahren diese Billetts herstellt: ”Eigentlich sind es kleine Bücher, denn es ist Buchdruck. Jedes Billett ist anders, weil es eine eigene Nummer hat.” Das Buchdruckverfahren wird mit dieser Definition zurückgeführt auf seine ursächliche Bedeutung. Robert Bramkamp: ”Wenn ich ein Billett bekomme, erhalte ich die Wirklichkeit portionsweise – auf den Benutzer hin zugeteilt. Es ist ein Ereignis, daß sich mit einer Interpretation verknüpft. Bei einer Museumsführung beispielsweise. Ein Billett-Ereignis ist immer eine überschaubare, in sich abgeschlossene Segmentierung des Lebens. Diese Segmentierung hat auch etwas mit Lesen zu tun, wie man beim Lesen auch Aufteilungen vornimmt. Wenn einer diese Karten sammeln und aufkleben würde, wäre das wie ein Tagebuch. Und das Verfassen eines Tagebuchs hat etwas mit Bücherschreiben zu tun. Ein Erinnerungszeitraum.” In einer Spielhandlung führt ein Mann, der möglicherweise der Fragensteller aus der Dokumentarhandlung sein könnte, diese Lesbarkeit von Ereignissen vor. BECKERBILLETT handelt aber auch von einem Instrumentarium der Reglementierung: ,,Sie glauben gar nicht, mit welchen Tricks die Leute versuchen, sich was vorzumachen, das müssen wir geradezu vorausahnen”, sagt einmal der Eintrittskartenhersteller. Und: ,,Wenn die Menschheit ehrlich wäre, wären wir arbeitslos.”

BETRACHTUNGSWEISEN
Die Widerstände in den Filmen Robert Bramkamps finden sich im Aufeinandertreffen verschiedener Erzählhaltungen. Dokumentarisches erhält narrative Funktionen, wie Spielhandlungen etwas erläutern, was nicht zu sehen ist. In GELBE SORTE, der ein Schwarzweiß-Film ist, wird einmal anhand eines Bildes von Monet die Höhe des dort abgebildeten Getreides bestimmt: ”Im Verhältnis zu den Damen dürfte das Korn ungefähr 90 cm hoch sein.” Die Lesbarkeit einer angewandten Kunstbetrachtung. Aus dieser Erkenntnis wird das Ideal einer Getreidesorte errechnet, die am Ende auf dem Feld des Jungbauern wächst. Robert Bramkamp: ”Wenn die Bilder am Ende von GELBE SORTE tatsächlich ein Monet-Bild simulieren, das Bild einer blühenden Agrarlandschaft, dann ist das weder die Öko-Idylle noch die Maisanbaufläche – es ist der Weg dazwischen.” Nichts entsteht zufällig, alles hat immer mehrere Wirklichkeiten. Es kommt, wie in DER MANN AM FENSTER, eben auf den Standpunkt an: ”Diese Sätze haben alle zwei Teile. Im ersten sagen sie die Wahrheit und im zweiten wird alles wieder bestritten. Es ist nicht alles Lüge, was gesagt wird, aber man muß die Hälfte weglassen, um zu verstehen.”

ZUM ABSCHLUSS MUSIK
”Wenn ich an einem Projekt arbeite, höre ich ein paar Popsongs, die einfach dazugehören. Weil sie die Tonlage haben, die in dem Moment paßt.”
In KATARINA BEWEGT SICH — einem frühen ”realistischen Spielfilm über Pop, Literatur und Wissenschaft”, dessen heimlicher Hauptdarsteller die Universität Bielefeld ist – heißt es: ”Egal, wie man sich fühlt, wenn man Musik drunterlegt, wirkt es besser.” Das scheinen sich auch die Veranstalter des Missionsabends mit James Irving gedacht zu haben, die in der Ankündigung des Ereignisses den Satz ”mit musikalischer Umrahmung” auf das Plakat drucken ließen.

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